"Alice"-Schöpfer Lewis Carroll - Dem weißen Kaninchen auf der Spur (2024)

"Alice"-Schöpfer Lewis Carroll

"Alice"-Schöpfer Lewis Carroll - Dem weißen Kaninchen auf der Spur (1)

Von Sabine Fringes·14.01.2023

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„Alice im Wunderland“ ist eines der bekanntesten Kinderbücher der Welt und hat unzählige Forschende, Musiker, Malerinnen und Dichter inspiriert. Wer war sein Autor? Wie ist es entstanden? Und ist es wirklich eine Metapher für einen Drogentrip?

Aus dem PodcastLange Nacht

Selbst wer die Bücher nie gelesen hat: Wer hätte nicht schon einmal von Alice und ihrer Reise ins „Wunderland“ gehört? Vom sprichwörtlichen weißen Kaninchen, von der Grinsekatze und dem verrückten Hutmacher?

Lewis Carrolls Alice-Bücher sind wohl ebenso stark im kulturellen Bewusstsein verankert wie Shakespeares „Hamlet“ oder Goethes „Faust“, vermutet die Anglistin Angelika Zirker. Die Professorin für englische Literatur und Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen beschäftigt sich seit mittlerweile zwanzig Jahren mit „Alice in Wonderland“ und dem zweiten Band „Through the looking glass“ – „Alice hinter den Spiegeln“.

Fundgrube für Kunst und Wissenschaft

Seit ihrem Erscheinen im Jahr 1865 inspirieren die Erzählungen von Lewis Carroll Musiker, Maler, Dichter und Komponisten: Es entstanden Opern, Operetten und Musicals, darunter auch ein p*rnomusical, und über 60 Verfilmungen von „Alice im Wunderland“, die berühmteste ist die aus dem Jahre 1951 von Walt Disney.

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Auch Wissenschaftler finden in den Abenteuern von Alice reichlich Stoff für ihre Arbeit: Ein „Alice im Wunderland-Syndrom“ bescheinigen etwa Neurologen ihren Patienten, wenn diese in Folge von Migräne oder Drogeneinnahme eine veränderte Wirklichkeitswahrnehmung haben.

Und unter dem Begriff „Kaninchenbau-Syndrom“ fassten jüngst Psychologen das Phänomen, wenn Menschen allmählich immer tiefer in einen Sog aus spekulativen Gedankenkonstrukten oder Verschwörungstheorien geraten, aus dem sie schwerlich mehr herausfinden. So wie Alice langsam und immer tiefer in die Welt des Wunderlandes eintaucht:

Mit einem Mal war ihr klargeworden, dass sie noch nie zuvor ein Kaninchen mit einer Westentasche gesehen hatte, am allerwenigsten eines mit einer Uhr darin; und außer sich vor Neugier rannte sie ihm, so schnell sie konnte, über den Acker nach, wo sie es zum Glück noch gerade unter die Hecke in einen großen Kaninchenbau hineinspringen sah. Im Nu war ihm Alice nachgesaust, ohne auch nur von fern daran zu denken, wie in aller Welt sie wohl wieder herauskäme.

aus: "Alice im Wunderland" (Kapitel 1)

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"Das weiße Kaninchen" in einer Illustration von John Tenniel (1891).© Getty Images / Universal History Archive

Wie kam es zu diesem durchschlagenden Erfolg eines Kinderbuchs? Wer war Lewis Carroll? Und was hat ihn zum Verfassen der Alice-Geschichten bewegt? Die Lange Nacht begibt sich auf die Spuren des weißen Kaninchens.

Kindheitssehnsucht statt Drogenrausch

In der Popkultur gilt Alices Reise ins „Wunderland“ oft als Metapher für einen Drogentrip – so etwa im Song „White Rabbit“ von Jefferson Airplane aus dem Jahr 1967. Und auch Paul Mc Cartneys Song „Lucy in the Sky with Diamonds“ deutet “Alice im Wunderland” als einen LSD-Trip.

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Der Autor der Alice-Geschichten ist allerdings des Experimentierens mit berauschenden Substanzen eher unverdächtig. Seine Sehnsucht galt nicht der Bewusstseinserweiterung, sondern der Rückkehr zu einem kindlichen Bewusstsein: „to be once more a little child!“, wie es in seinem Gedicht „Solitude“ heißt.

Diese Wiedererweckung der Kindheit sei ein „ganz starkes Moment bei Carroll“, sagt Angelika Zirker. „Wenn er die verrückte Welt ins Leben ruft, in der Alice sich bewegt, tut er das, um die Erfahrung von Kindheit widerzuspiegeln: Dass man mit Regeln konfrontiert wird, die aus der kindlichen Perspektive keinen Sinn ergeben, dass Leute über Dinge reden, wo man denkt: Worüber sprechen die eigentlich? Weil einem Kontexte fehlen, weil man Konzepte noch nicht versteht. Eine Welt, die sehr stark von Spielen und Sprachspielen geprägt ist. Und damit eine Möglichkeit zu haben, in diese Welt wiedereinzutauchen.“

Geschenk für ein befreundetes Mädchen

Mit bürgerlichem Namen heißt der Autor der Alice-Bücher Charles Lutwidge Dodgson und kommt als Sohn eines Pfarrers 1832 in der nordenglischen Grafschaft Cheshire zur Welt – daher die Inspiration für die „Grinsekatze“, die im Englischen „Cheshire Cat“ heißt (abgeleitet wohl vom Cheshire Cheese, der in Form einer grinsenden Katze hergestellt wird). Im Pfarrhaus durchlebt er nach eigener Aussage eine glückliche Kindheit, umsorgt von zwei älteren Schwestern – denn die Mutter hatte allerhand zu tun mit den acht weiteren Kindern.

Bereits als Kind erfindet er Puppenspiele und Theaterstücke für seine Geschwister. Und gibt mit elf Jahren eine Familienzeitschrift heraus. Er übt sich im Parodieren von moralischen Gedichten, die Kinder im viktorianischen Zeitalter auswendig lernen sollen. Eines seiner Gedichte gipfelt darin, dass eine Fee zu guter Letzt alles verbietet. Ein Echo davon findet sich später in „Alice in Wonderland“, wo die Figur der Herzogin das Moralisieren bis zum Äußersten treibt.

Nach seinem Studium der Mathematik und Theologie lebt und arbeitet Dodgson als Mathematikdozent im Christ Church College in Oxford. Ein zartgliedriger, gepflegter junger Mann, der winters wie sommers Woll-Handschuhe, aber nie einen Mantel trägt – und die lockigen Haare stets ein bisschen länger als üblich.

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Die drei Schwestern Edith, Ina und Alice Liddell (v.l.n.r.) im Sommer 1858, aufgenommen von Carroll selbst - letztere wurde zum Vorbild für seine Protagonistin.© Imago / piemags

Der Junggeselle freundet sich mit dem Dekan des Colleges Henry George Liddell an. Und besonders gut versteht er sich mit dessen drei Töchtern: der dreizehnjährigen Lorine, der achtjährigen Edith und der zehnjährigen Alice. Regelmäßig erfreut er sie mit aus dem Stegreif erfunden Geschichten – so auch auf einer Bootsfahrt im Juli 1862. Doch diesmal bittet ihn die kleine Alice darum, die Erzählung für sie niederzuschreiben.

Carroll nimmt sich zwei Jahre für die Ausarbeitung der Geschichten und versieht sie mit 37 eigenen Zeichnungen. In grünem Saffianleder gebunden, überreicht Carroll den Band im Jahr 1865 der inzwischen 13-jährigen Alice als „Weihnachtsgabe für ein liebes Kind in Erinnerung an einen Sommertag“.

Ein revolutionäres Kinderbuch

„Das Geschenk kam unglaublich gut an bei ihr und der Familie“, weiß Angelika Zirker, „und er hat dann die Geschichte anderen Kindern erzählt.“ Unter anderem dem Sohn des befreundeten Schriftstellers George MacDonald, der davon so begeistert war, dass er sich in kindlicher Übertreibung 60.000 Ausgaben des Buches gewünscht haben soll. „Das war sicher ein Anlass für Lewis Carroll, über die Publikation nachzudenken.“

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Lewis Carroll (Charles Lutwidge Dodgson) in einer Portraitaufnahme von Oscar Gustave Rejlander (1863).© IMAGO / piemags / Oscar Gustave Rejlande

Nach dem Erscheinen 1865 entwickelt sich „Alice in Wonderland“ schnell zum Bestseller – obwohl oder gerade weil es sich mit seinem „Nonsense“ von den meisten damals üblichen, belehrenden Kinderbüchern abhebt, wie Zirker betont:

„Man findet ganz viele Parodien in den Alice-Büchern von zeitgenössischen oder tradierten Kinderreimen, wo Fleiß und Gehorsam belohnt werden – und Lewis Carroll macht sich darüber lustig und schreibt die um: aus der fleißigen Biene wird das faule Krokodil. Und das ist das Besondere, dass er Literatur für Kinder geschrieben hat, die nicht ernsthaft war, nicht moralisierend. Für uns ist das was völlig Normales, dass Kinderbücher unterhaltsam sind und lustig, aber in der Mitte des 19. Jahrhunderts war das etwas Revolutionäres.“

Zwischen Nonsens und Tiefsinn

Zugleich geht es um durchaus ernsthafte Fragen, etwa die nach der eigenen Identität: „War ich heute Morgen beim Aufstehen noch dieselbe?“, fragt sich Alice: „Mir ist es doch fast, als wäre ich mir da ein wenig anders vorgekommen. Aber wenn ich nicht mehr dieselbe bin, muss ich mich doch fragen: Wer in aller Welt bin ich denn dann? Ja, das ist das große Rätsel!‘“

Was ist das für eine Welt? Was ist meine Aufgabe darin? Und: Wer bin ich überhaupt? Das sind die großen Fragen in den wunderlichen Welten des Lewis Carroll. Im zweiten Teil, „Through the Looking Glass“, der 1871 erscheint, wird diese philosophische Dimension noch stärker, sagt Zirker: „‚Alice hinter den Spiegeln‘ ist viel stärker philosophisch geprägt, setzt sich viel stärker damit auseinander, wie eigentlich Welt wahrgenommen wird, was passiert, wenn plötzlich alles verdreht ist.“

Bereits im ersten Band der beiden Alice-Bücher hatte das sprechende weiße Kaninchen die Neugier von Alice erst mit seinem nervösen Blick auf die Uhr geweckt. Auch der zweite Alice-Band steckt voller Gedankenexperimente zur Zeit und hat sich heute zu einer beliebten Zitatenquelle für Naturwissenschaftler entwickelt, mit der sie ihre paradoxalen Einsichten zur Relativitätstheorie oder Quantenphysik verständlich zu machen suchen.

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Carroll selbst veröffentlichte neben den Alice-Bänden nicht nur Gedichtsammlungen und Nonsense-Balladen (wie „Die Jagd nach dem Schnatz“), sondern auch – unter seinem bürgerlichen Namen – Bücher zu Mathematik und Logik. „Das Spiel der Logik“ etwa ist eines der ersten Bücher über Logik, das für Laien und insbesondere für Kinder ab zwölf Jahren konzipiert wurde.

Einzelgänger und Kinderfreund

Trotz des Erfolgs seiner Alice-Bücher lebte Carroll beziehungsweise Dodgson weiterhin ein recht anspruchsloses – und für Außenstehende eintöniges – Leben als Tutor am Christ Church College. Dort hatte er einen streng geregelten Tagesablauf, zu dem Andacht, Arbeit und nachmittägliche Spaziergänge gehörten. Von einer Liebesgeschichte ist nichts bekannt. Seine Vorlesungen sollen „stinklangweilig“ gewesen sein, und als Mathematik-Tutor war er wohl sehr ungeduldig. Doch die Kinder liebten ihn. Und er die Kinder.

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Das Christ Church College in Oxford: Hier führte Lewis Carroll ein bescheidenes Leben als Mathematik-Dozent.© imago images / CSP/ Anna Moskvina

Zeitlebens war Caroll immer wieder mit jungen Mädchen befreundet – was heute mindestens befremdlich erscheinen mag. Angelika Zirker sieht darin jedoch einfach einen weiteren Ausdruck seiner Sehnsucht nach der Kindheit: „Es war ja nicht so, dass er mit diesen Kindern alleine war. Die Eltern waren dabei. Also meistens die Mütter. Ich denke, man sollte ihm den Vertrauensvorschuss geben, gerade durch die Kontakte mit den Eltern, dass es nichts Anrüchiges hatte, sondern für ihn ein Lebensentwurf war.“

Das vollständige Manuskript der Sendung kann bei der Redaktion angefordert werden.

Am 14. Januar 1898 stirbt Lewis Carroll im Kreise seiner Schwestern in Guildford. In Folge einer verschleppten Erkältung, da er in seinen Räumen am Christ Church College an Heizung sparte. Ein Großteil seines Vermögens hatte er zu Lebzeiten bereits großzügig verteilt, er unterstützte damit seine geliebte „Schwesternschaft“ sowie eine Vielzahl karitativer Einrichtungen, von denen einige sich bedürftiger Frauen und Kinder annahmen.

1950 wurde das Pfarrhaus in Croft, in dem Lewis Carroll zusammen mit seinen zehn Geschwistern aufwuchs, umgebaut. Dabei fand man in einem Hohlraum unter dem Boden verborgen Spielsachen aus ihrer Kindheit: ein Tee-Service für Puppen, Kindertaschentücher, Bleistiftanspitzer, Tonpfeifen und einen Zettel auf dem die Worte stehen: „And we’ll wander through the wide world and chase the buffalo.“ Prophetische Worte – für die Alice-Geschichten, die seit über 150 Jahren um die Welt reisen.

Produktion dieser Langen Nacht:
Autorin: Sabine Fringes; Regie: die Autorin; SprecherInnen: Hildegard Meier, Felix von Manteuffel, Axel Gottschick, Thomas Krause, Christiane Nothofer, James Bunyon; Ton und Technik: Michael Morawietz und Jens Müller; Redaktion: Dr. Hans Dieter Heimendahl; Webdarstellung: Constantin Hühn.

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Author: Carlyn Walter

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